In diesem meinungsbetonten Artikel beleuchtet Anastasia Flit die Fairness von Trinkgeld aus ihrer eigenen Perspektive. Dabei stützt sie sich auf ihre dreijährige Arbeitserfahrung in einem Mode-Einzelhandel.
Die nette Kellnerin, die Dir Deine Bestellung innerhalb weniger Minuten bringt. Der Friseur, dank dem Du jetzt hochgradig attraktiv aussiehst. Der Pizzabote, der Dir Deine Kalorien bis vor die Haustür fährt. Was diese drei Personen gemeinsam haben? Sie kümmern sich um Dich und machen Dich glücklich – selbstverständlich bekommen sie dafür von Dir ein Trinkgeld!
Doch was ist mit mir? Die flinke Verkäuferin im heimeligen Modegeschäft – die Dir zu Deiner Hose das perfekte Shirt aussucht, es Dir in zwei Größen und vier Farben bringt und Dir den Vorteil von Viskose gegenüber Polyester erklärt? Die die übrigen 29 Teile ordentlich aufräumt, welche Du auf den Boden gepfeffert zurücklässt, während Du mit dem Oberteil für 9,95 Euro zur Kasse schreitest. Auf mein „Vielen Dank und ein schönes Wochenende“ brummst Du ein trockenes „Danke“ und rauschst zum Ausgang. Mit Deinen 5 Cent Rückgeld im Portemonnaie. Da stellt sich mir die Frage: Wieso ist Trinkgeld nur in ausgewählten Branchen üblich – und nicht im Einzelhandel?
Warum bekommen Kellner Trinkgeld?
Ein kleines Extra beim Bezahlen ist hierzulande in der Gastronomie und im Dienstleistungsgewerbe gang und gäbe. Das Trinkgeld ist eine persönliche Zuwendung als Dank für die Leistung, die erbracht wurde – sei es für das leckere Essen oder das kühle Bier. Auch bei Taxifahrern und im Hotel (Zimmermädchen oder Page) sind Trinkgelder üblich: Damit belohnst Du den guten Service und bietest eine zusätzliche Vergütung, denn immerhin werden diese Berufe mit einer geringen Bezahlung assoziiert. Außerdem opfern Kellner ihre Sonn- und Feiertage, um Dich in Deiner Freizeit mit köstlichen Speisen zu verwöhnen… hier dient das Aufrunden als Zeichen der Wertschätzung. Ein Dankeschön für das angenehme, persönliche Verhältnis, das für einen kurzen Moment bestand.
Wenn ich diese Definition jedoch auf andere Branchen übertrage, treten einige Fragen auf. Im Einzelhandel wird selten Trinkgeld gegeben. Im besten Falle verzichtet ein Kunde auf sein Wechselgeld – gewöhnlich 1 bis 9 Cent. Leiste ich als Mode-Beraterin nicht genauso viel Service, wie ein Barkeeper? Was ist mit Handwerkern, die am Sonntagmorgen den Wasserrohrbruch in Deiner Wohnung reparieren? Oder die Krankenpflegerin, die Dich liebevoll gesundpflegt?
Diese drei Personengruppen sind nur eine kleine Auswahl derer, die Deinen Tag retten und Dein Leben erleichtern. Auf der Suche nach einer Begründung für das fehlende Trinkgeld im Einzelhandel, bin ich immer wieder auf folgende drei Argumente gestoßen:
„Keine Ahnung, aber wer gibt da schon Trinkgeld und vor allem, warum? Weil die so schön Dein Bier übern Scanner gezogen hat?”
Das bedeutet also, die Kellnerin bekommt die Zuwendung, weil sie Dir Dein Bier auf eine so elegante Art zu Tische bringt? Das größere Problem sehe ich jedoch im ersten Satz: Keiner macht sich so wirklich Gedanken darüber, wem man wann und wie viel Trinkgeld gibt. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, in der Schule gelernt zu haben, wie das funktioniert. Wahrscheinlich schaut sich das jeder von seiner Umgebung ab und lernt: Im Restaurant wird je nach Zufriedenheit ordentlich aufgerundet, im Einzelhandel hingegen zählt Papa sein Rückgeld auf den Cent genau nach. Ein Gruppenzwang, den niemand hinterfragt.
„Hör mal, Verkäufer bekommen ein festes Gehalt. Eine Bedienung im Café dagegen ist meist auf das Trinkgeld als Verdienst angewiesen.”
Geäußert von jemandem, der wohl noch nie im Verkauf gearbeitet hat. Denn im klassischen Einzelhandel verdient ein Minijobber im Regelfall Mindestlohn und selbst erfahrene Kräfte bekommen maximal 1-2 Euro mehr. Erst der Storemanager oder die Schichtleitung können mit höherem Gehalt angeben – aber die findest Du auch selten auf der Verkaufsfläche.
„Kellner bedienen Dich. Sie gehen mit Dir eine soziale Beziehung ein und tragen zur Atmosphäre im Restaurant bei. Kassierer, was machen die? Kurz grüßen, die Produkte einscannen und ihre Hand ausstrecken.”
Zugegeben, beim klassischen Kassierer im Supermarkt tritt eine persönliche Bindung zum Kunden selten auf. Wenn ich jedoch an meine einleitende Szene im familiären Modegeschäft erinnern darf, wird der Kunde dort individuell und fürsorglich betreut. Natürlich gehört das zum Job des Verkäufers im Einzelhandel dazu. Genauso wie das Servieren von Speisen die Aufgabe der Servicekraft ist. Bislang habe ich somit noch keine nachvollziehbare Erklärung zur „Trinkgeld-Diskriminierung“.
Exkurs: Hilft der Blick in die Vergangenheit?
Seinen Ursprung hat das Trinkgeld im 19. Jahrhundert. Als Reisen und Freizeitaktivitäten dank der boomenden Industrie für immer mehr Menschen möglich waren, entstand dadurch ein höherer Bedarf an Personal im Gastgewerbe: Kellner, Zimmermädchen und Dienstboten arbeiteten verhäuft als Freiberufler ohne festes Gehalt und lebten von den wenigen Groschen, die ihnen zugeworfen wurden. Bis zur Einführung des Mindestlohns in 2015 verdienten Personen dieser Berufsgruppen einen niedrigen Stundenlohn, von dem sich das Leben kaum finanzieren ließ.
Stand 2020 liegt der Mindestlohn bereits bei 9,35 Euro und wird jährlich erhöht. Auf den ersten Blick eine hohe Steigerung gegenüber den mittelalterlichen Löhnen, andererseits wird vom Mindestlohn auch niemand reich. Das Aufrunden in Gastronomiebetrieben hilft enorm und kann pro Schicht zwischen 10 bis über 50 Euro betragen. Auf den Monat hochgerechnet eine beachtliche Summe. Einige Betriebe werben sogar damit, dass Angestellte ihr bescheidenes Gehalt mit hohen Trinkgeldeinnahmen aufbessern können – was spätestens im Falle von Kurzarbeit dem Arbeitnehmer zum Verhängnis wird. Mit anderen Maßnahmen lässt sich eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit besser erreichen:
Doch die geringe Bezahlung in der Gastronomie ist kein Argument: In vielen anderen Branchen ist das monatliche Gehalt genauso niedrig, selbst die zuvorkommende Zahnarzthelferin verdient nur minimal über dem Mindestlohn – und erhält kein Trinkgeld.
Was sagt das Arbeitsrecht zum aufgerundeten Betrag?
Grundsätzlich ist es eine freiwillige Zahlung zusätzlich zum Rechnungsbetrag. In Deutschland sind in der Gastronomie etwa 5 bis 10 % üblich und in den USA etwa das Doppelte, während eine Extrasumme in Japan direkt als Beleidigung empfunden wird. Laut DEHOGA ist es ein freiwilliges Dankeschön für die gute Leistung des Mitarbeiters. Da es sich um eine Zuwendung eines Dritten handelt, darf der Arbeitnehmer sein Trinkgeld behalten und es wird nicht versteuert. In manchen Fällen wird der Betrag unter dem gesamten Personal verteilt, um Koch und Spülhilfe daran teilhaben zu lassen. Steuerpflichtig wird es, wenn der Arbeitgeber die Verteilung übernimmt oder es sich gar in die eigene Tasche steckt. Im Arbeitsrecht finde ich eine mögliche Erklärung für die branchenabhängigen Unterschiede:
- Es ist Kassierern rechtlich untersagt, Geld bei sich zu tragen oder Münzen offen liegen zu haben.
- Die Kasse muss am Ende des Tages den korrekten Betrag enthalten. Dadurch müssen Angestellte im Supermarkt entweder die aufgerundeten Beträge umgehend einbongen oder den aufgerundeten Betrag ablehnen.
- Manchmal befindet sich eine kleine Spenden-Spardose neben der Kasse, in die Kleinbeträge geworfen werden dürfen.
- In manchen Unternehmen ist das Annehmen von Extrabeträgen außerdem verboten, um dadurch das Bestechen von Mitarbeitern auszuschließen.
Das alles wirkt für mich ein bisschen undurchsichtig. Wo darf ich nun den Betrag aufrunden, wo darf ich es nicht bzw. wo lohnt es sich nicht, da der Angestellte es nicht behalten darf? Aus Unsicherheit lassen es die meisten gerade im Einzelhandel einfach bleiben und nehmen das gesamte Rückgeld an.
Worauf will ich nun hinaus?
Will ich, dass das Trinkgeld in der Gastronomie abgeschafft wird, aus Fairness gegenüber dem Einzelhandel und weiteren trinkgeldlosen Branchen? Nein, das ist überhaupt nicht mein Ziel. Ich möchte Bewusstsein schaffen und Aufmerksamkeit für das Thema erwecken. Jeder, der Trinkgeld gibt, soll dabei darüber nachdenken – und vor allem jeder, der keins gibt.
Wenn ein Optiker, der Fachhändler im Fahrradladen oder eben die Verkäuferin im Modegeschäft sich besonders aufmerksam um Dich gekümmert hat: Dann frage doch beim Bezahlen ganz direkt, ob sie Dein Rückgeld behalten dürfen. Denn wer Dir etwas Gutes getan hat, verdient eine Belohnung. Und jetzt komm mir nicht mit der Ausrede, dass Du Dir das Aufrunden in der Kneipe nicht leisten kannst: Wer 2,70 Euro pro Bier ausgibt, kann noch 30 Cent drauflegen.
Denke auch über ein nicht-finanzielles Dankeschön nach. Der Mechaniker in der Werkstatt hat Dir eine Großreparatur erspart und binnen 5 Minuten den Fehler behoben? Schreibe doch eine E-Mail an die Geschäftsstelle und lobe den Mitarbeiter. Bewerte das Unternehmen auf Google oder gängigen Portalen. Und zeige vor allem öfter Dankbarkeit. Auch wenn die Kassiererin im Einzelhandel kein Trinkgeld annehmen darf, freut sie sich über ein Lächeln und ein herzliches „schönes Wochenende“. Es sind oft die kleinen Dinge im Leben.